Palmanova (Friaul)

Città senza tenerezza

  

… Palmanova kämpft mit seiner Erbsünde: 
Der Fluch der Geometrie gebiert Polemiken,
Glaubenskriege, Ungeheuer …

 

STRAHLEND WEISS HEBT SICH DIE WÖLBUNG des Platzes gegen den blaugrau lastenden Himmel. “Es wird nicht regnen”, verkündet der himmelstürmende Flug einer Schwalbe. “Es wird”, zeihen dichte Wolken die Schwalbe Lügen. “Mir gehört der Augenblick”, flüstert mit Goldmund die Abendsonne und bringt die Fassaden an der Piazza zum Leuchten. “Du irrst”, herrscht sie aufbrausend der Wind an, ungeduldig, nervös – schon fängt er ein paar unachtsame Wolken ein, um sie, die Leichtsinnigen, gegen die Sonne zu treiben.

Rangelei der Elemente – einzig sie halten sich heraus, die Häuser an der Piazza Grande von Palmanova. Sie haben ihre Augen geschlossen, als schliefen sie, als träumten sie von Plätzen im Süden, von Menschen bevölkert, die ihre Würde anerkennen – und so lösen sie sich, wenn auch nur im Traum, von ihrem Leben am Gestade der gewaltigen Piazza, deren Größe und Leere sie verdrängt: an den Rand der Wölbung aus weißem Schotter, dort tost um acht Kanten der Verkehr, gnadenlos, zu laut, daß du noch die leise geführte Zwiesprache der Häuser mit ihren Bewohnern vernehmen könntest …

 

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AUF ZEHENSPITZEN IST ER GEGANGEN – GIORGIO, dem der “Messaggero Udinese” heute einen Nachruf widmet. “Se n’è andato in punta di piedi, come era vissuto, Giorgio Zanon, udinese di origine, ospite della Casa di riposo di Palmanova.” Auf Zehenspitzen, so wie er lebte … Doch er ist nicht mehr, Giorgio, Bestandteil der Piazza Grande, Bewohner, Bewahrer der Form, der Formen, der Förmlichkeiten: Täglich, so erzählt der “Messaggero”, grüßte er auf der Piazza “educatamente” die Statuen der provveditori. Ein ungeschriebenes Ritual der Piazza Grande, mit seinem Gruß begründet. Er, das Original, war immer vor Ort, war immer freundlich, war immer bereit, Passanten, Touristen Auskunft zu geben: So blieb er auch denen im Gedächtnis haften, die einmal nur ihm begegnet waren, eine Scheme vielleicht nur, ohne Gesicht, doch nicht blind … Ich schwanke: zwischen dem Glück, durch seinen Tod von ihm erfahren zu haben. Und dem Bedauern, ihm nicht mehr begegnen zu können. Denn Versäumnisse kennen kein Danach … “E morto, portato via a un male incurabile, ma lascia in tanti il segno della sua amicizia e cortesia.”

“Il segno dell’ amicizia e cortesia …”: In diesem Zeichen sollst du sie vereinen – jene Bilder, die Palmanova, die neunzackige Sternenstadt, die Wehrhafte in Venedigs Diensten, die in Festungsmauern maßlos Gewachsene dir noch verspricht. Im Bannkreis einer Geometrie, die Arglist nur kennt und Feindseligkeit, dort warten sie auf dich – Begegnungen, der Wechsel von Blicken, der kurze Moment, wo wundersame Wesen aufeinanderprallen … Ohne Wirkung vielleicht, vielleicht auch mit einem kurzen, atemzuglangen, neuen Kurs, den du einschlägst am Sternenbrett von Palmanova. Dort warten sie auf dich – die Begegnungen, die du in deiner Gier, zu verstehen, ersehnst. Und jene auch, vor denen du zurückweichst, ahnend, daß du sie nie verstehen wirst …

 

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STILLE UND DUNKELHEIT UMFANGEN den Fremden, der den Dom von Palmanova betritt. Dabei ist es weitläufig und hoch, das Kirchenschiff, dabei ist es nicht so still, das Gotteshaus, das Bilder beherbergt und Töne und Stimmen – eine Stimme, die du vernimmst: Unscheinbar, eine kleine, gebeugte Gestalt, dort siehst du sie bei den Kerzenständern vor dem ersten Seitenaltar, von dem aus die Worte, die sie murmelt, den Kirchenraum füllen bis an seine Grenzen. Worte nicht nur, auch Melodien, die sie summt, ein bizarrer Choral, aus allen Ordnungen gelöst, und schon wieder wechselt sie zu den Worten: “Santa Maria, madre de Dio …”

Als Lauscher ertappt, wendest du den Blick ab, versenkst dich in den Altar der Rosenkranzmadonna vor deinen Augen, doch deine Sinne folgen ihren Schritten – sie kommen näher, auch ihr Gesang, ihre beschwörenden Worte. Eine hermetische, heillose Messe, die sie feiert: keine Wandlung, keine Kommunion, nur Beschwörung des Heils, inständig in eine Welt, die dir Angst macht in ihrer Ausschließlichkeit – da wandelt sie an dir vorbei, murmelnd, summend – die Lichter, die sie entfachte, leuchten vor dem ersten Seitenaltar: eine Statue der Madonna, die milde lächelt …

 

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CITTÀ SENZA TENEREZZA. Palmanova, als Idealbild einer Kriegsfestung erstarrt – warum läßt diese Stadt keine Nähe zu? Räume, die sich fürchterlich öffnen. Straßen, die streng umgrenzte Häuserblöcke trennen. Breit genug für Armeeaufmärsche. Viel zu breit für Nachbarschaften. Hausfassaden, die sich nicht in die Augen blicken. Zwischen denen Schweigen herrscht. Von Anbeginn an haben sie nicht gelernt, miteinander Umgang zu pflegen. Auch die Piazza Grande teilen keine Nachbarn: Vereinzelte sind es, sie haben auf den steinernen Bänken Platz genommen, für einen Moment Vergänglichkeit. In der Bar nehmen sie keine “sede” ein – ein “posto” ist es, der bezogen wird. Jeder findet seinen Platz in Palmanova, der Vermessenen. Weit genug vom Nächsten und dessen engsten Vertrauten …

 

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DIE WELT IST EINE SCHEIBE, die es zu umrunden gilt. Und so spielen sich die wahren Ereignisse dieses Samstagnachmittags am Rande der Piazza Grande ab. Umkreisen diese. Beharrlich, unaufhörlich. Das Glockengetöse vom Dom, das sich am Vorabend von Corpus Christi in den Flächen des Polygons bricht und zurückkehrt – welche Wege dem Schall, unendlich verhallend, doch die leere Fläche bietet! Das Hupkonzert, das sich im Hochzeitstaumel über den Platz verbreitet, Töne in Bewegung, so verwirrend, weil einzelne Stimmen, kaum, daß sie geortet, schon wieder gewandert, schon wieder verdoppelt, sich im Echo verschlingen, unseßhaft geworden. Dann wieder die Kreise der Kleinsten, nicht so vielfältig hier in Palmanova, doch in spontaner Freude: Mit dem Ball wird die Standarte in der Mitte des Platzes umrundet, kein Schritt ist geplant, jeder kann woanders hin führen – wäre da nicht die Hand der Mamma …

 

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DER ARM DER SCHWESTER GIBT IHR HALT, und so folgt sie ihr, Schritt um Schritt, auch wenn diese Schritte für sie ohne Ziel sind … Dort stehen sie jetzt, vor Strizzolos Laden, zu dritt, doch sie folgt nicht den Blicken der beiden, fern liegen für sie die Wunder im Fenster, die schwarzen Schnallenschuhe, die hellen Sandalen – nein, gleichgültig, achtlos schweift ihr Blick, irrt auf die leere Piazza ab, ohne dort irgendwo Halt zu finden. Die Gegenstände verweigern beharrlich ihm Antwort – dem Blick, dem entgleisten, der behinderten Frau …

Teresa – so nenn ich sie insgeheim –, Teresa fordert nicht viel vom Leben: keine Sensationen in ihrer kleinen Welt, solang sie diese eine nur spürt – die Schwester, die sie hält.

 

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AUF DER SUCHE NACH DEN PROTAGONISTEN der Stadt. Nach den Handelnden. Denen, die die Geschichten von Palmanova tragen und bewahren – in ihren Mündern, ihren Herzen. Denn Geschichten gebiert selbst Palmanova, dieses gnadenlose Schachbrett einer Kriegsmaschinerie, auf dem sich nur langsam auch Bewohner niederließen. Mit Widerwillen, lese ich in den Zeugnissen zur Vergangenheit der Stadt: Kaum jemand, der zunächst in der Festung leben wollte. Vielleicht, weil die Räume für Menschen fehlten?

 

Ich habe die alten Pläne studiert, diese Ausgeburt wehrhaften Eifers: Zu breit die Straßen, abgesteckt in militärischer Präzision, zu abweisend das glatte Gefüge, keine Winkel, keine Vicoli. Zwar waren Plätze vorgesehen, Kristallisation der einzelnen Quartieri – doch was davon blieb, sind leere Flächen, im besten Fall von Pinien bestanden, doch kein Ort entstand, zum Verweilen geeignet. Auch die Piazza Grande weist ab, weist zurecht. “Piazza Grande” – keines Namens mehr fähig in ihrer maßlosen Gegenwart, bleibt sie stumm gegen den, der das Wort an sie richtet. Und jetzt, vier Jahrhunderte nach der Gründung von Palmanova, ist das Schweigen der Piazza faßbarer denn je …

Sie leiden am Schweigen, die Menschen von Palmanova. Sie spüren es sehr wohl, “il problema di avere una piazza vivibile e visitabile”. Wer könnte die schlimmsten Wunden heilen? Im “Messaggero” las ich’s erst heute: Die Pflanzung von Bäumen fordert “Città futura”, mehr Rücksicht auch für Behinderte – feindlich ist schon die Schotterung des gesamten, sich weit erstreckenden Platzes; mehr Sorgfalt auch fordert die Initiative, damit die farbliche Gestaltung des Platzes gelänge. Die Antwort der Stadt, sie bleibt nicht aus: Im selben Blatt spricht sie davon, den Verkehr zu gestalten, die Gehsteige zu verbreitern, Parkplätze zu schaffen, der Termin ist schon dringlich – die Förderungen auch –

Die Stadt kämpft mit ihrer Erbsünde, sie kämpft im Bewußtsein, nur verdecken, aber nicht mehr heilen zu können. Und du erkennst: Die Geometrie war meist ein schlechter Ratgeber für Urbanisten. Der Fluch der Geometrie gebiert Polemiken, Glaubenskriege, Ungeheuer …

© Günter Exel