Bolsena (Umbrien)

Das Wunder von Bolsena

 

Geschlagen, getröstet, beschwiegen: 
Die kleinen Schmerzen des Augenblicks 
finden ihren Widerklang schon 
auf der Fassade von Santa Cristina 
– dort, wo die Geste der Demütigung hinterblieb.

 


BLAUSCHWARZE WOLKENSCHWADEN, vom Seewind getragen, ziehen hinter der scharf gestanzten Form des Campanile vorüber, an ihren Rändern, wo das Wolkengrau das Nachthimmelblau bedrängt, mit einem zarten, bleichweißen Saum bestickt. Sie wandeln sich, vom See an das Land tretend, wechseln im Übergang vom Dämmerungshimmel ins Nachtschwarz ihre Gestalt.

 

Schweigend gewahrst du, an der scharf in die tinterne Nacht geschnittenen Fassade von Santa Cristina vorbei, das Schauspiel ihrer Metamorphose: Wie die Marmorierung der gewaltigen Kuppel sich umkehrt, vom Wolkendämmerschwarz auf dem Tagesabschiedsblau zum Nachtschemenweiß auf einem Weltentiefenschwarz, aus dem soeben der erste Sternenpunkt irrleuchtet –

 

– * –


HART, GNADENLOS HART fallen die Schatten der Pilaster und Bögen von Santa Cristina: die Fassade zu sehr zerschnitten, um im Rhythmus der Renaissance-Proportionen zu klingen. Gerahmt von Blendarkaden und blinden Lunetten, erzählt der Sandstein ein blutiges Bilderrätsel mit Nägeln, Zangen, Geißeln und Lanzen: das Martyrrium des Menschensohns, von Menschen geschunden, von Menschen verherrlicht, von Menschen besungen in Bildhauers Hand.

 

Auf den sechs Pilastern von Santa Cristina in Bolsena siehst du sie, die Leidenswerkzeuge, geführt von Händen, die Blut nur wollten, im Blut wühlten – und noch wühlen. Vom stummen Schrei, nur in endlosen Metonymien des Leidens angedeutet, erzählen die Pilaster von Santa Cristina, wo Blut nochmals floss im Mittelalter, Sein Blut, so heißt es, im Wunder von Bolsena, wo es aus einer Hostie tropfte sodann, von päpstlicher Allmachtwillkür im Glaubensgefäß zu Fronleichnam gestockt –

 

– * –

„AUAUUUAAUUUAAHHH …“ Helles Kinderweinen, salzige Tränen. Von der Mutter geschlagen, von der Großmutter getröstet, die weißhaarige Urgroßmutter, sie schweigt: Ein Bambino, große Augen unterm dichten schwarzen Haar, wurde soeben von drei Generationen seiner Familie diszipliniert. Von der Straße geholt, wohin er ausgerissen, der Dreikäsehoch mit dem samtenen Blick. Geschlagen, getröstet, beschwiegen: Die kleinen Schmerzen des Augenblicks finden ihren Widerklang schon auf der Fassade von Santa Cristina – dort, wo die Geste der Demütigung hinterblieb.

 

Und doch ziehen sich Fäden der Zuversicht von dieser einen Sitzbank an der Piazza Santa Caterina in die Zukunft, von jener seltsam exemplarischen Frauengruppe, Mutter, Großmutter, Ahne – Anna Selbviert im alltäglichen Kleid.

 

– * –

VEREINZELTE NUR SCHREIBEN die Geschichte der Piazza Santa Cristina an diesem Juliabend: Anna Selbviert. Eine Einheimischenrunde, beim Glas Wein dem Abendwind trotzend. Das Profil der hübschen Kellnerin im geschlitzten Rock, das du heute schon sahst im Profil der etruskischen Schönheit, deren Antlitz unsterblich blieb in Tarquinias Katakomben …

 

Vertrauensvoll hat sich neben dem Schreibenden ein Terrier aufs spärliche Grün der Barterrasse gebettet, wo er eingerollt in Träumen jagt. Doch jetzt fährt er auf, hat Witterung aufgenommen – ein großer, weißer Retriever ist’s, den er wittert, dort vor dem Dom, unbeweglich, in Begleitung eines Paares. Unschlüssig stehen sie sich so gegenüber, die Platzbreite ausmessend mit ihrem Blick.

 

Sie kommen und gehen, vom Seewind vertragen, die Konzertklänge von der Piazza Matteotti, wo auf der Freiluftbühne die Lautsprecher dröhnen – ein lang gezogenes Krächzen, Singen: Mit offenem Fenster überquert ein Auto die Piazza, wie besinnungslos hat der Beifahrer den Kopf zurückgeworfen und lässt einen unmenschlichen Ton hören …

 

– * –

ER IST ZURÜCK, mein Hund, gedankenverloren streiche ich ihm über den Kopf, das fettig-glatte Fell, mit dieser Geste zufrieden zieht er sich auf seinen Schlafplatz zurück, rollt sich ein, schließt die Augen, beginnt zu träumen, und blauschwarze Wolkenschwaden, vom Seewind getragen, bewegen sich quer durch die Kuppel seines Kopfes, aus dem soeben der erste Sternenpunkt irrleuchtet … 

 

© Günter Exel