… die Last des Fasses nimmt man
ihnen jetzt ab, doch die Last der
Contrade wiegt schwerer noch …
MONTEPULCIANO, TOSKANISCHER ADLERHORST auf hohem Bergrücken – dieser fahnenflatternde Hort traditionsbewußten Contradendenkens, dieses Labyrinth aus verwittertem Backstein und Travertin, dieser nimmermüder Feinkostladen des gestylten Agriturismo, diese Promenade perfekter Schönheiten, mit Glutaugen, daß es einem heiß und kalt den Rücken hinabläuft – Montepulciano, du hältst mich noch länger hier fest, als ich es wollte …
SCHWEISSÜBERSTRÖMT, sie japsen nach Luft, zwei der Helden des nächsten Sonntags kämpfen sich die steile Gasse herauf. Piazza Grande, abends um neun: In Shorts und mit Stirnband quälen sie sich,
schwer wiegt nicht nur das eigene Gewicht, auch die Hoffnungen ihrer Contrada tragen sie mit, die Steigung hinan – nein, sie rollen sie vor sich her, dumpf tönt das große, hölzerne Weinfaß am
Berg, rattern dunkle Dauben auf Pflasterstein. Bravìo delle Botti – für ihn proben sie hier, für ihn schinden sie sich, geben ihr Bestes.
Am letzten Sonntag im August wird die Stadt ihrer harren, hier oben am Gipfel, während sie bergauf, unendlich lang diese Gassen, mit sich, mit dem Gegner, dem Gewicht der Welt kämpfen. Auch die
Fahnenschwinger proben seit langem, vor dem Tempio di Balio sah ich sie üben. Im Nachmittagshimmel flatternde Farben, in sieben, acht Metern kreuzen sie sich, um wieder zu landen in der Hand des
Partners. In den seltensten Fällen klappt es noch, exakte Griffe verlangen die kühnen Figuren, die große Tradition – sie werden noch viel zu üben haben …
Die zweite Contrada, das zweite Faß: schon deutlich am Ende ihrer Kräfte, sind sie gezeichnet von einer jener Schnapsideen, deren jedes Gemeinwesen, das auf sich hält, wohl eine sein eigen zählt. Keine Heiligenstatuen hetzen sie hier, in Montepulciano, den Berg hinauf. Weinfässer genügen, eine würdige Spielart für Italiens Residenzstadt des Rotweins. Suum cuique …
ZWEI SIGNORI WECHSELN BLICKE an ihren Tischen vor dem Caffè, wohl schon hunderte Läufer haben sie in all den Jahren gesehen, die Skepsis ist ihnen in die Falten geschrieben. Noch mehr Neugierige hat hier der Abend versammelt, ganz achtlos sind nur die Jüngsten am Platz, die vergnügen sich auf Bühne und Tribünen im Toben.
Arrivano! – ein beeindruckender Auftritt des nächsten Teams, keine Spur von Erschöpfung. Ein unglaublicher Rhythmus, das Faß scheint zu schweben. Natürlich, das Auge ist bestechlich, vielleicht täuscht auch das Schreien, das Brüllen, das Johlen des mitlaufendenen Betreuers, aber diese beiden scheinen doch doppelt so schnell zu sein wie die beiden anderen Teams. Auch die Signori nicken anerkennend, den Ragazzi ist einiges zuzutrauen. Also, jetzt sind erste Anweisungen an die Frauen dieser Contrada angebracht: Schließlich gibt das siegreiche Viertel am Abend ein Festessen für alle – und so etwas plant man gern vor …
Vai, vai, vai! Der Coach gibt sich alle Mühe, im nächsten Gespann an der Daube noch Reserven zu finden, doch die können nicht mehr, es kommt einfach nichts mehr nach. Dementsprechend kühl der Empfang an der Piazza für die beiden, ein Buhruf gibt den beiden Auserwählten, denen die Last zu schwer geworden ist, den Rest. Die Last des Fasses, die nimmt man ihnen jetzt ab, doch die Last der Verantwortung gegenüber der Contrada – sie schütteln die Köpfe, es ist wie vernagelt, aber es war nicht mehr drinnen … Wohl ist beiden nicht in ihrer Haut.
AUCH “LANCI” LEIDET, wohl ist auch ihm nicht. Was die Piazza hier bietet, das interessiert ihn herzlich wenig. Mit seinen kurzen Beinen hätte er bei dieser Schinderei sowieso keine Knackwurst zu
gewinnen. Das, was ihn interessiert, ist der Hund vom Caffè, das, was ihn daran hindert, ist die verdammte Leine um seinen Hals, ist die mangelnde Einsicht seines Begleiters. Unverstanden fühlt
er sich, Lancioloto, Dackel mit eindeutigen Vorlieben, unverstanden und auch nicht sehr wohl.
Es wird Zeit für das nächste Team – wo bleiben die Fanciulli? Schon länger blieb es ruhig in den ansteigenden Gassen. Doch die Gespräche, das Scherzen, das Lachen und Toben hält an. Komme, was wolle, am kommenden Sonntag hat jeder seinen Platz. Am kommenden Sonntag wird sie aufleben, die farbenprächtige, fahnengeschmückte, stolz gepflegte Rivalität der sieben Contrade, werden sie sich die Seele aus dem Leib schreien, wenn “ihre” Contrada gewinnt, und feiern werden sie, gleich wer dann triumphiert – Gewinner dann alle, gemeinsam.
Die Kunst des Lebens – hier besteht sie aus einem seltsamen Gleichgewicht von Liebe und Rivalität. Auch Lancioloto stößt, beseelt aufs Neue von Leidenschaft, beim Anblick eines großen, weißen, zotteligen Hundes freudige Rufe einer allumfassenden Liebe aus. Das Leben ist doch so einfach. Wenn man ihn nur ließe …
© Günter Exel