… das ist der Kontinent im Herzen des Mittelmeeres.
Ein Mosaik an Möglichkeiten. Ein Sinnbild des Seins …
Sizilien ist wie ein kleiner Kontinent. Ein Kontinent, dessen Strahlkraft weit über seine Grenzen hinausreicht. Von den Wüsten Arabiens bis in die britischen Highlands. Hier trotzen die
besterhaltenen griechischen Tempel seit Jahrtausenden der glühenden Sonne. Hier feiert im Farbentaumel der schönsten römischen Mosaikböden die längst untergegangene kaiserliche Pracht ihre
Wiederauferstehung. Hier öffnen die normannischen Mosaike von Cefalù und Monreale goldene Türen ins Jenseits.
Sizilien ist wie ein kleiner Kontinent – unfassbar in seiner kulturellen Wucht und Fülle. Doch es gibt noch ein anderes Sizilien, das ein leichtes, luftiges Band durch meine Gedanken webt. Ein
Mosaik aus flüchtigen Impressionen. Aus Gerüchen und Geschmäckern. Aus Begegnungen und Augenblicken, die in der Erinnerung zu leuchten beginnen …
Noch in der Dämmerung war ich aufgestanden, um den Sonnenaufgang zu erleben. Von meinem Balkon hoch über dem Ionischen Meer sah ich, wie sich der Himmel über der Südspitze Kalabriens rötete. Als
die Sonne aus dem Meer stieg, war ich bereits auf dem Weg in die Stadt. Blühende Sträucher säumten die leeren Gassen, überall schien der Duft frisch gebackener Cornetti zu schweben. Verschlafene
Signori schlurften langsamen Schrittes über die Piazza. Die ersten Sonnenstrahlen tauchten Mauern und schmiedeeiserne Balkone in ein goldenes Licht. Kaum ein Mensch noch am Corso –
So kam ich im Herzen Taorminas an – auf der Piazza IX Aprile. Die Schneefelder des Ätnas glühten in der Morgensonne. Ich setzte mich auf eine der Bänke, blickte über das Meer, das ruhig unter
einem wolkenlosen Himmel lag. Und ich dachte nach über diesen Kontinent im Kleinen … Den ich vor 16 Jahren – auf einer der eindrucksvollsten Reisen meines Lebens – einen Monat lang durchquert
hatte. Damals fügte sich das Mosaik der Impressionen zum Bild von Sizilien – la mia Sicilia …
LA MIA SICILIA … das sind Bergstädte, noch rauer und urtümlicher als Taormina. Enna, das wie ein kristalliner Block auf einem Felsen über den Hügelwellen thront. Noto mit seiner barocken
Theaterarchitektur. Das beschauliche Palazzolo Acreide. Comiso und Ragusa, in denen das sizilianische Leben brodelt.
Und Erice – meine Traumstadt über den Wolken, mit ihren mittelalterlichen Häusern und den gepflasterten Straßen wohl die schönste Bergstadt Siziliens. An manchen Tagen bläst der Wind Wolkenfetzen
durch die engen Gassen und der Turm der Chiesa Matrice verschwindet im Nebel, sodass du meinst, in Schottland zu sein. Am nächsten Morgen siehst du dann bei tiefblauem Himmel hinüber bis nach
Afrika.
LA MIA SICILIA … das ist die Piazza, auf der sich alle treffen, wenn die Hitze des Tages wieder nachlässt. Wenn tutta la famiglia den Abend genießt, die Bambini auf ihren Fahrrädern kurven oder
ihren Bällen hinterher jagen. Das Bild der sizilianischen Piazza, das sich mir damals einprägte, zeigt die alten Männer, die in Gruppen stehen und die Welt im Reden neu erschaffen. Während die
jungen Männer über den Platz promenieren – an der linken Hand die Freundin, an der rechten das Autoradio …
Manches am Bild der Piazza ändert sich wohl – heute führen sie das Autoradio nicht mehr aus, sondern bestenfalls die abnehmbare Konsole. Heute klingelt pausenlos irgendein telefonino – „pronto …
sono in piazza!“ Doch die Anziehungskraft der Piazza ist unverändert geblieben – selbst in Taormina, der touristischen Kapitale, lassen sie sich ihr Wohnzimmer nicht nehmen, nehmen sie die Piazza
IX Aprile jeden Abend aufs Neue in Besitz –
LA MIA SICILIA … das ist Taorminas eleganter Corso Umberto I, auf dem sich jeden Abend ein zutiefst italienisches Spektakel gegeben wird: die angeblich eleganteste passeggiata Italiens. Zum
Abschluss des Tages flanieren Jung und Alt von der Porta Messina bis zur Porta Catania, wenden, flanieren von der Porta Catania bis zur Porta Messina, wenden …
Das Spektakel gehorcht überall denselben Regeln – ob in Taormina oder Monreale. Familien, Freundesgruppen, Liebespärchen pendeln bis zu einem unsichtbaren Punkt – und kehren wieder um. Und alle
trachten dabei nach einem: bella figura abzugeben. Lässiges Schlendern. Makelloser Modegeschmack. Gegeltes Haar: die ragazzi. Hohe Absätze und heißes Outfit, das die Figur betont: die ragazze.
Dazu das Spiel der Blicke. Abschätzig. Begehrlich. Sehen und gesehen werden. Aber auch: Nähe spüren, Gemeinsamkeit. Man hält sich an den Händen. Hakt sich ein. Von der nonna bis zum bambino. Die
bella figura vereint sie alle – ob jung oder alt.
LA MIA SICILIA … das sind Städte, in denen das Leben Theater ist. Wo die Mauern wie Filmkulissen scheinen. Syrakus mit seinem griechischen Theater. Die Insel Ortigia mit ihren barocken Fassaden,
von Engeln und Putten bevölkert, aber auch von Grotesken, Ungeheuern, Fabelwesen. Sie tragen Balkone und Gesimse, lauern über Fenstern und Türen, verstecken sich hinter Ecken und Mauern.
Schelmisch, herrschaftlich, verklärt mustern sie den Passanten und dessen Treiben …
LA MIA SICILIA … das ist auch das weite, leere Land, das im Frühling in einem unfassbaren Grün leuchtet. Und das im Hochsommer wie verwandelt scheint, braun und verdörrt, mit scharfen Konturen.
Und doch fruchtbar, wenn es gelb und orange aus den Zitronen- und Orangenhainen blitzt.
Und so pflückst du im Archäologischen Park von Syrakus, da der Durst dich überrumpelt, eine Zitrone vom Baum, genießt ihre säuerliche Frische, fühlst dich gestärkt …
LA MIA SICILIA … das sind die Menschen, die dieses Land bebauen. Der Bauer, der uns in einem kleinen Nest frisch geerntete Mandeln schenkt. Doch, sie sind zurückhaltend, die Sizilianer. Von der
Geschichte nur zu oft überrumpelt, haben sie ihren Instinkt entwickelt, wer sich ehrlich auf ihr Land einlässt. Umso herzlicher werden die Begegnungen gefeiert. Umso überraschender kommen die
Gesten der Wertschätzung an. Setz dich Abends mit Freunden in eine Bar an der Piazza von Erice – vielleicht schenkt dir dann am nächsten Morgen ein Maler das Aquarell, das er von euch beim
Kartenspiel malte …
LA MIA SICILIA … das sind auch die langen, einsamen Strände, an denen du bei Mondlicht die geschenkten Mandeln knackst und Vino alla Mandorla trinkst … Ja – Sizilien verbreitet einen besonderen
Zauber bei Nacht. Und du verfällst der Faszination dieses uralten Landes, wenn du Nächtens in Selinunte das größte archäologische Gelände Europas betrittst, über die Trümmer gigantischer Tempel
kletterst und über das Pflaster römischer Straßen schreitest – in der Ahnung, nur einer zu sein in der Reihe der Jahrhunderte …
LA MIA SICILIA … das sind nicht zuletzt die Gerüche, die Aromen des Landes. Die würzigen Kräuter. Der Salbei, den ich frühmorgens im schlaftrunkenen Taormina pflückte und unter meiner Nase
zerrieb. Die Orangen, die überreif unter den Bäumen in den Seitengassen Taorminas lagen. Das gewaltige, lärmende Panoptikum aus Gerüchen, Rufen, Farben, Gedrängel am Fischmarkt in Catania –
LA MIA SICILIA … das ist der Kontinent im Herzen des Mittelmeeres. Ein Mosaik an Möglichkeiten. Ein Sinnbild des Seins.
© Günter Exel