… meine Harfe aus Insektenflügeln,
sie antwortet jedem Streichen,
die Töne klingen auf, ebben ab …
IM VERLASSENSTEN, VERWUNSCHENSTEN WINKEL im einsamen Nordens Latiums wanderte ich auf versunkenen Städten, verborgenen Gräbern. Norchia – unrettbar verfallen, romantisch überwachsen: Ich war
lange Zeit bis Sonnenuntergang der einzige Mensch, nein, der einzige Lebende, der sich in dieses Tal der verblichenen Menschenalter wagte. Aus Felsengräbern flüsterten alle Meter aufs Neue die
Stimmen der toten Etrusker, die sich Vel, Arnth, Laris, Velthur, Larth, Ravnthu oder Velcha nannten. Seltsam klang ihre Sprache, verführerisch ist der Gedanke, ihre Spiegelschrift zu lesen.
Ich drang bis zu den letzten Grabfassaden durch, watete viermal mit bloßen Füßen durch das Bachbett des Aqualta, nur um zu sehen. Doch dann, doch dann: hörte ich sie. Die Stimmen von Arnth, Laris und Velcha –
SIE FÜHREN IN DIE TIEFE, aus dem Tuffstein herausgemeißelt: Stufen, wieder Stufen. Ich folge ihnen, in die Tiefe, wo mich bald links und rechts glatte Wände überragen: der schmale Gang in die Grabkammer. Hier nimmst du Abschied vom sonnenflimmernden Laubgrün des Tales, tauchst ein in das moosbraun verwitterte Zwischenreich, in dem du noch siehst, noch mehr ahnst, noch intensiver riechst und hörst.
Die Grabkammer? Leer, natürlich, doch mit ihren steinernen Bänken wie ein wartendes Haus, in dem als letzte Zeichen der Wohnlichkeit vermodernde Möbel auf die Rückkehr der Bewohner harren. Nein, sie sind für immer gegangen, denkst du, Larth und Vel und Velthur – mit dem Auszug ihrer Sarkophage haben auch ihre Seelen vom verwunschenen Tal Norchia Abschied genommen. Nichts blieb – als eine steinerne Schatulle. Nichts anderes ist mehr geblieben als die Spur des Meißels, die ein etruskischer Steinmetz an die Wandgräber kalligraphierte …
Doch im Bedauern, dass dieser Ort stumm bleibt, namenlos – dem, dessen Hand den Meißel führte, der die Spuren in die Decke trieb, vermagst du keinen Namen mehr zu geben –, doch im Bedauern noch, da hörst du sie …
EIN SANFTER, WEICHER, GESCHMEIDIGER TON. Ein leises Schwingen, Summen, Streichen. Ein Cantus firmus, tiefer im Ton, und dann Wellen, Wogen, in denen der Klang anschwillt. Eine Symphonie der Erde, in einem dir unerklärlichen Wechsel anbrandend, sich ewig gleich und doch verändernd.
Dann hörst du, begreifst du, verstehst du diese Musik: Es sind tausende feiner Insekten, die sich an den grün verwachsenen, moosbraun verflochtenen Gangwänden halten – sie alle nach oben ausgerichtet, zu den moosig eingetunkten Sonnenreflexen strebend. Nicht viel größer als ein paar Sandkörner die dunklen Körper, mehr zu erahnen als zu erkennen die durchsichtigen Flügel.
Ein feines, weiches Summen – das ist ihr Grundton. Doch immer wieder explodiert ihr dunkles Sternenmuster, immer wieder stieben sie dann als leuchtende, taumelnde, kreiselnde Funken auf – und eine Oktave höher, einen Saitenschlag lauter ertönt das Instrument … das Instrument … das Instrument … ich – ich hebe langsam meine Hand, führe sie an der Wand entlang – wie in einem Bogen sprühen hunderte Körper auf, erklingen höher, kehren zurück, dorthin, wo sie saßen –
ICH WIEDERHOLE DAS STÜCK: Streiche mit großen, mit kleinen Kreisen die Wand entlang, einmal schneller, einmal langsamer – meine Harfe aus Insektenflügeln, sie antwortet jedem Streichen, die Töne klingen auf, ebben ab – ich entdecke die Gesetze meiner Erdsymphonie, spiele, variiere, steigere, ebbe ab –
Eine Harfe streiche ich, eine etruskische Harfe – ich erwecke die Klänge einer Totenstadt zum Leben, mit ihr, meiner etruskischen Totenharfe –
© Günter Exel
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Karin Keilhofer (Sonntag, 26 Mai 2013 22:45)
Wnderschön...