IM ANGESICHTE DES SEES – der durch den steinernen Torbogen hindurch schimmert. Im Angesicht von Goethes Antlitz im bronzenen Medaillon. Im Angesicht des Wunders eines frühlingsblauen Himmels, von
blühenden Bäumen, von Zypressen und Oliven, wo ich mich doch Stunden zuvor noch im verschneiten Alpental, im tiefsten Winter auf den Weg machte. Im Angesicht wundersamer Ereignisse, die mich hier
in den mediterranen Frühling führen – mich, der ich gestern noch ungläubig über dieses Bild gestaunt hätte: Ich, in der Sonne des Gardasees, italianità genießend, in einem caffè an der Piazza.
Wie aus dem Eis getaut, habe ich bereits verwirrt die ersten Ölbaumzweige, das erste Steineichenlaub berührt, habe mich am Duft der Blüten von den Hängen des Gardasees berauscht …
Im Angesichte von Einzigartigem, Unwiederholbarem. Hier in Riva finde ich in einem Antiquariat einen Stich von William Hogarth, datiert mit 1743 – kein Preis ist angeschrieben, der Chef ist außer Haus – wir einigen uns auf 70.000 Lire. Beim Stöbern fällt mir ein Hogarth in die Hände … Eine seltene Sternstunde!
Eine Sternstunde – in Konjunktion mit der „serata della cometa“: Ausgerechnet heute ist der Komet Hale-Bopp am besten sichtbar. Ausgerechnet heute … Der ganze See schaltet um 22.30 Uhr die Lichter ab. In Österreich stürmt und schneit es. Doch hier am Gardasee werde ich bei klaren Himmel eine Begegnung erleben, die sich nur alle 2700 Jahre wiederholt –
ABENDSONNE, DIE DIE FESTUNG DER SCALIGERI in Malcesine wärmt. Zwei Fledermäuse, taumelnd Kapriolen schlagend in der warmen, die Sinne verwirrenden Luft –
Unbändig, wild, der Farbenaufschrei, mit dem sich eine Felsenblume am kargen Uferstreifen festhält – ihr Locken in feurigem Rot und Gelb hat Erfolg: Die Biene naht –
Flimmernd, durchsichtig hebt sich der Schwarm der tanzenden Abendmücken ab gegen das Schwarzgrün der Zypressen, die Textur der Zinnen bewährten Festungsmauer, die grün dämmernde Wasseroberfläche: immer bewegt, ewig gleich –
Hoch reicht die Mauer, in deren Kante, leicht eingekerbt, mit weißem Putz unterlegt, eine Madonna Halt und Raum gefunden hat – sich anklammernd und behauptend als Heilige in extremis, als Patronin der unschuldig dem Leben Ausgesetzten. Über der Madonna der Haltlosen schmiegt sich der fasrige Stamm eines Weinstocks gegen die rot verputzte Wand, mit Behutsamkeit die ersten zartgrünen Bläter entfaltend –
Das Schild „Hinc J.W.Goethe Id. Sept. MDCCLXXXVI arcem delineavit.“ Der benannte Torbogen öffnet sich, heraus tritt: ein Ragazzo mit Fahrrad –
HEUTE ABEND, AM UFER DES SEES, betrachte ich beide. Den Kometen, der seine Spur in den schwarzen Nachthimmel zeichnet. Und jene vor dem Ristorante „La pace“, die ihm mit Blicken folgen. Der Stern streift in der kurzen Dauer seine Passage – nur ein Wimpernschlag auf seiner Reise – das Bewusstsein der ihn betrachtenden Menschen, zeichnet unvergessliche Spuren in deren Gedächtnis. Und sie, so zerstreut in ihren Äußerlichkeiten, wirken für einen Moment vereint in der fassungslosen Bewunderung dieser Erscheinung. Er bringt sie zum Schweigen. Nicht alle. Aber alle, die in diesem Augenblick erahnen, was die Welt bewegt. Was die Welt bewegt.
Was ist es, das sie im selben Moment die Hände heben lässt? Die Ahnung – oder auch der Zweifel? Wer sind wir – konfrontiert mit einem so klaren wie trügerischen Bild? Hinter wie vielen Lichtsekunden verbirgt sich der Komet noch immer vor uns? Was erahnen wir, gefiltert durch die Geschwindigkeit des Lichts, von seiner wahren Existenz?
Und was ist wirklich größer? Der Komet mit seinem fernen Feuer – oder diese Flammen auf den Berghängen im Westen, gegen die in diesem Augenblick verzweifelte Menschen kämpfen? Was ist größer? Der Komet auf seiner Reise, der nach wenigen Tagen wieder für 2700 Jahre verschwinden wird? Oder diese ein Jahrhundert alte Steineiche, die, mir, dem Schreibenden, allmählich den Blick auf den Reisenden verwehrt?
Der Komet ist das perfekte Bild von Beständigkeit in der Bewegung. Das wahrhaftige Bild eines … Gottes. Und doch reicht ein einfacher Baum, einen Stern verschwinden zu lassen –
HOTEL SIRENA, MALCESINE. Ich wechsle zwischen dem Bett und dem Fenster, zwischen dem Buch und dem Kometen, zwischen der kühlen Nachtluft und der wärmenden Decke. Das Buch … wieder eine dieser unglaublichen Geschichten: Gestern erst, um halb zwei in der Nacht, schalte ich noch in Österreich den Fernseher ein – und treffe im italienischen TV auf ein Gespräch mit Luigi Malerba. Über sein neuestes Buch. Die Beziehung zwischen Mann und Frau. Zwischen Odysseus und Penelope. „Itaca per sempre.“ Gerade erst erschienen …
Malerba, einfach so. Ich finde „Itaca per sempre“ hier in Malcesine in einer Buchhandlung. Und jetzt am Abend betrachte ich den Kometen von meinem Fenster aus, das auf den See hinausführt. Bemerke ein Leuchtfeuer auf einem Felsen, unweit von hier. Abend der Lichterscheinungen. Ich nehme „Itaca per sempre“ zur Hand. Lese, wie Odysseus seine Heimat nicht mehr erkennt. Der rosafarbene, ausgewaschene Fels. Das trockene, buschbestandene Land. Das Odysseus nicht mehr erkennt.
Und plötzlich wird mir klar: Der Name dieses Hotels ist „Sirena“ …
BARDOLINO, AM HAFEN. Im klaren Licht des Sonntagvormittags raubt mir eine Schönheit den Atem, wie sie vor mir vorbeispaziert. Das strahlende Gelb ihres Kleides vor dem Tiefblau des Frühlingshimmels, dem ruhig liegenden See. Auch ich bin so ruhig und heiter, wie ich seit Monaten nicht mehr war –
Erscheinungen … Licht, eine fliegende Lichtspur im zarten Blau an der Mole, ein Mädchen, ganz in schimmerndes Weiß gekleidet, den Schleier im Haar, rezitiert sie fröhlich Gedichte kindlicher Festlichkeit: die Hochzeit der Schwester? Die Erstkommunion –
Keck sind blonde Haare zu zwei Schöpfen hochgebunden, die neckischen Pastelltöne am leichten Sommerkleidchen flattern im Augenwind – da! ein übermütiger Sprung –, und langgezogen sind jetzt die Schritte des Urlauberkindes, das mit wachsender Freude das Reich des Bewegens, Schreitens, des ersten Ausgreifens und stolpernden Lastens auf den eigenen Beinen erkundet –
„P.S.: Wir haben uns alle Arme und alle Beine gebrochen, aber sonst geht’s und gut!“ diktiert fröhlich ein Junge vom Nebentisch seiner Ansichtskarten schreibenden Mutter.
VERONA, PIAZZA ERBE. Nur noch wenige Stunden, bis ich wieder in den Winter zurückkehren werde. Doch jeder Augenblick in diesen zwei Tagen ist kostbar geworden. Im Unterwegssein wie im Innehalten. Ich bin bereits glücklich, die Sonne auf meiner Haut zu spüren. Wie sie brennt, sich verzehrend brennt –
Die „serata della cometa“ hat Spuren hinterlassen. Ließ mich Fragen nach der Gewichtung der Dinge, dem „Gewicht der Welt“ stellen. Der Abend des Kometen wurde für mich zur Nacht der Feuer, der fernen und der nahen, der vorhersehbaren und der wie ein Unheil, wie eine Offenbarung (oder beides davon?) über die Menschen herinbrechenden Flammen. Gegen den Lauf der Welten ist das Schicksal des einzelnen Menschen nichts – oder alles? Was ändert sich am Weltgefüge, am Ganzen, wenn ein einzelner herausfällt? Nichts? Und wenn es mehr sind? Zehn, hundert, tausend? Sechs Millionen Juden? Können diese klaffenden Lücken, Wunden etwas in Bewegung bringen, das über sie hinaus weist? Das vielleicht Schicksalsläufe in Gang setzt, die vorher niemand ahnen konnte?
Ich denke an die Taten eines einzigen Mannes wie Oskar Schindler, der im Dritten Reich 1.200 jüdische Zwangsarbeiter vor der Ermordung im KZ bewahrte. An das Echo, das sein Leben bei Steven Spielberg fand. An das Echo, das wiederum dessen Film „Schindlers Liste“ schuf – stell dir vor, in den USA haben für jeden der sechs Millionen Toten zehn Lebende, zehn Betroffene, zehn neue Zeugen zugesehen, als der Film ausgestrahlt wurde –
COINCIDENZA … WAS HAT DAS ALLES mit dem Kometen zu tun? Mit den 1000 Tagen, die uns noch bis zum Jahr 2000 bleiben? Denn – das die letzte große Überraschung des gestrigen Entdeckertages – es traf dies alles auch noch mit dem Tag 1000 zusammen …
Coincidenza … In diesen Tagen, mit offenen Augen, offenem Herzen, wächst alles zu einem großartigen Ganzen zusammen: die Flucht aus dem Winter, die Ölbäume und blühenden Sträucher, Hogarth am Gardasee und die römische Arena in Verona, das Feuer am Himmel und die Flammen in den Bergen, Luigi Malerba und das Hotel Sirena, 1000 Tage und 2700 Jahre, die Ohnmacht des Einzelnen und die Betroffenheit von Millionen –
Coincidenza … Darum wird die „serata della cometa“ für mich auch der Abend der Wachsamkeit bleiben, der Abend des gemeinsamen Staunens von Wildfremden, der Abend der Steineiche, die stärker war als der Komet, der Abend der wahren und trügerischen Signale. Das Leuchtfeuer von Malcesine und das Singen der Sirenen. Der Feuerschein über dem Lago di Garda und die klare, aber von den Grenzen des Lichts gebremste Erscheinung des Kometen.
Coincidenza … Der Komet wird für mich auch auf immer damit verbunden bleiben, was ein Einzelner an Großem bewirken kann – oder versäumen. So wie die Steineiche, die ein Schauspiel verdeckt, das nur alle 2700 Jahre sichtbar wird: Es genügt nur ein Schritt, um einen Kometen zu erschaffen oder zu verdunkeln …
COINCIDENZA … DIE TROMMELN kündigen den Palio an. Verona hält mich noch fest …
© Günter Exel