Chioggia

Legerezza di Essere

 

Chioggia, von Linien und Adern durchzogen.

Chioggia, in Flächen wachsend und wärmend.

 

DER MOND TANZT AM DRAHTSEIL, schwebt noch einen Augenblick – blaßweiße Kontur im duftigen Äther – als Hauch am zarten Himmelsstrich, um sich dann abzustoßen, weiter zu seiner Reise durchs vormittägliche Blau. Julimorgen in Chioggia – mit heiteren Farben zeichnet er ein luftiges Aquarell der Lagunenstadt auf das ausgebreitete Himmelspapier, setzt diskrete Akzente mit Linien und Flächen. Masten, Antennen und Bootspfähle, schmiedeeiserne Laternen und gewirtelte venezianische Säulen: Chioggia, von Linien und Adern durchzogen. Schiffskajüten in Meerblau, Hausfassaden in warmem Ocker und Rot, dazu das gelb gewirkte Tischtuch, das den Fluß des Bleistifts lockt, lenkt und begrenzt: Chioggia, in Flächen wachsend und wärmend.

Legerezza – Arabesken, von der Sonne gemalt, an der Wasserfläche gespiegelt, so überziehen sie Schiffswände und Hausfassaden, so tauchen sie wieder im Canale ein, bewegte Zerrbilder ihrer selbst, im Echo der Farben verschwimmend. “Attenzione al canale!” rufen die Alten vom Nebentisch dem Pärchen zu, das mit seinem Freizeitgefährt gefährlich nahe an die Kante gerät. Diese lachen, lachen muß auch der Bambino, Entdecker am Moped der Mamma, die Warnhupe ist’s, die ihn lockt und beglückt, und wieder und wieder und wieder – ein quakender Ton – bringt er sie zum Klagen.

Legerezza – tun, was dir in den Sinn kommt, so oft du es willst, was auch immer es sei.

 

– * –


DER LÖWE RUHT SCHLÄFRIG im Sonnenschein, streckt sich aus auf der Brüstung des venezianischen Balkons. Tauben, zwischen Flattern und Ruhen, am Wappenschild auf der Fassade sind sie festgefangen. Steinerne Musen, mit Lyra die eine, mit Pinsel die zweite, sie singen und malen an der unsichtbaren Stadt. Eine Maske schreit stumm, doch der Palazzo hört weg, ignoriert ihren Pein.

 

Aus Stein ist das Leben: Sie bewegen sich nicht, doch es fehlt nur ein Stück, ein kleines nur, zum Wachen, zum Fliegen, zum gellenden Schrei. Erstarrt ist das Leben: Die Stadt erkaltet im Spiegel der Maler und Zeichner, die mit einstudierten Kanalveduten, mit Ansichtskartenmotiven und Erinnerungsfloskeln im Circolo Culturale Pittorico wetteifern. Entglitten das Leben: Es schnappt am Fischmarkt nur trockene Luft, wo Aale im Zwielicht der fleischroten Plane verzweifelt die Mäuler aufreißen, wo aus Rochen mit aufgeschnittenen Bäuchen der Tod hervorquillt, wo geschäftige Händler in leblosen Tintenfischen und Krebsen wühlen.

 

Und dann einfach: das Leben. Das Gespräch zwischen Fischern, die nach erfolgreichem Fang ihre Netze mit grober Hand sortieren. Die Blicke der Frauen, die sorgsam, pedantisch am Markt beim Canale die Ware prüfen. Drei Kinder auf der Schwelle, im Getümmel des Marktes, die ein Kinderlied singen, so einfach, so klar –

© Günter Exel