Lucca (Toskana)

Schnellgericht der Blicke

  

… Paare, Passanten, vors 

Schnellgericht der Blicke gezerrt, 
ein Stempel aufs Fleisch, ein Klaps noch, 
dann auf den Weg … …

 

ER WÜRGT NOCH AN SEINER BEUTE, als ihn der Blick des Betrachters trifft, schon stopft er zwei Stielaugen eilig zurück in die Augenhöhlen, läßt los seinen Fang, einen knackigen Busen … Vom Schreiben befreit lehne ich mich zurück, Piazza Napoleone, Gesellschaft der Späher. Ausschließlich Signori lauern im Schatten, flüchtig mustern sie den Tag, in kleine Portionen zerlegt, was er wohl bringen möge. Paare, Passanten werden beurteilt, vors Schnellgericht der Blicke gezerrt, begutachtet dann, ein Stempel aufs Fleisch, ein Klaps noch, und dann befördert auf den Weg.


Sie wissen zu tarnen, zu täuschen, genügen sich bei “Tirreno”, “La Repubblica”, “Il Messaggero”, doch lauern sie immer, bereit für den Sprung. Und für nackte Empörung, wenn touristische Software die Szene beherrscht, so offenherzig, ein Skandal … Auch der Franzose, ihnen schräg gegenüber, bemüht sich sonnenbehütet um die Regeln des Spiels. Und er spielt es gekonnt, so glaubt er, vom Sessel des Straßencafés, Legeresse, wohlerholt, Negligence, eine Prise – ist doch seine Frau auf einen Sprung entschwunden und hat ihn, Roi de la Rue, einen Atemzug lang vom ehelichen Joch entbunden … Doch das läßt seine Kontrahenten auf den Steinbänken kalt, sie wissen, der wirkliche Ré della Via kennt keine Pflicht zur Repräsentation, er ist, was er ist, und er weiß, es ist gut …

Doch mit frischer Hausmannskost kann man ihn begeistern – das beweist eine flockig vorbeischwebende Luccheserin, Nymphe unter dem Platanendach, Sonnenschein im kühlen Schatten, der alle Blicke gehorchen. Und nachschweifen, Messer und Gabel bei Fuß … Ein duftiger Auftritt, ungeahnten, ungekannten Glanz hinterläßt sie in den Augen der Promenaden-Soldateska, der im sanften Verglühen den Blick für die nächsten Kandidatinnen trübt. Die nehmen’s mit Gelassenheit – denn Hunger kehrt schnell wieder.

 

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DOCH WAS NACHFOLGT, IST geschmacklose Tafel: Shorts und T-Shirt, bleiche Oberschenkel – teutonischer Familienauflauf. Selbst gefräßige Wesen, selbst gnadenlos am Topf der Attraktionen raufend, kreisen sie, gefräßige Mehrzeller, Impressionen ein, keine Chance auf Entkommen, in kürzester Zeit verschlungen, verdaut … Gnade den Pflastersteinen, Platanen, Passanten und Piazzen, die in diesen Touristenmägen landen, unzerkaut, gräßlich ducheinandergeworfen, ein mit Romantik und Fadesse eingespeichelter Brei, von dem sie Jahre noch zehren werden.

 

Nur die Profis auf der Bank, den “Messaggero” in der Hand, die werden den Ahnungslosen entkommen. Für den nordischen Gaumen ohne Würze, unbeachtet, ungefressen, auch nicht vergessen, haben sie praktisch nicht einmal existiert. Die Sammler von Impressionen wissen nicht, was ihnen entgeht: Sind doch jene, die Herren des Straße, im Menü dieses Morgens das Salz dieser Erde –

 

© Günter Exel