Adria

Ein Sommer wie damals

  

Heute entdecken wir, fast staunend, 
dass das einstige Land der Sehnsucht 
auch heute noch ein Paradies ist: 
für Neugierige, für Entdecker, für Genießer …

 

DAMALS, ALS DIE WELT GROSS WURDE. Unterwegs in den Süden – so wie einst, in den Kindheitstagen, als die Stunden noch lang waren, das Licht so intensiv … Die Welt ein Film, „Italien“ der Titel, so saßen wir staunend auf der Rückbank des Autos, ohne Gurte noch, wer dachte an Kindersitze? Verstecken, rausblicken, sich langweilen und fasziniert sein. Nur mehr die Berge trennen uns von Italien, sagt Mutti, und so erwarte ich es am Ende des Tunnels – das Licht des Südens, das Meer, die Welt … 

Der letzte Tunnel, der Himmel weitet sich, die Landschaft gleißend hell – und mit einem Schlag wird es warm, ja heiß: Genau, das ist der Sommer von damals! Ungewohnte Pflanzen schießen vorbei, links die Föhren des Karsts, rechts Flusspappeln schon. Weit, hell und freundlich liegt das Schwemmland des Tagliamento. Der erste Campanile grüßt herüber von einem Hügel. Immer mehr, verheißend, als ob sie dich dazu verlocken wollen, von der Autostrada abzufahren. Doch damals gab es nur das Meer – und noch stärker, die Sehnsucht danach. 

Damals, bei der ersten Begegnung mit der Adria. Damals, als die Welt groß wurde … Hat die Adria, leuchtendes Paradies der Vergangenheit, ihre Strahlkraft verloren? Wirkt der Zauber aus Kindertagen nicht mehr? – Der Reiz des ersten Mals ist verschwunden. Doch mit den Jahren und den Wiederholungen erhielt die Sehnsucht nach „dem Süden“ eine neue Form: die der Vertrautheit mit der Adria und ihrem Hinterland. Heute zweigen wir schon früher ab. Heute entdecken wir, fast staunend, dass das einstige Land der Sehnsucht auch heute noch ein Paradies ist: für Neugierige, für Entdecker, für Genießer …

 

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FROMME GESÄNGE, FRÖHLICHE GESICHTER. 8. September, Mariä Geburt. Aus der weiten Fläche der Lagune von Grado ragt hoch der Campanile von Santa Maria di Barbana auf. Viele haben sich heute mit dem Schiff auf die Laguneninsel begeben, um an der Prozession der „Madonnina del Mare“ teilzunehmen. Fromme Gesänge, fröhliche Gesichter, Sonnenschein im Herzen. Der Glauben ist hier noch lebendig … Auch die Mutter Gottes genießt die frische, leicht salzige Lagunenbrise: Die Statue wird einmal durch den schattigen Hain vor der Basilika getragen. Unter Pappeln, Steineichen und Zypressen breiten sie dann Picknickdecken auf, lassen sich an langen Tafeln nieder, um gemeinsam zu feiern. „Tanti auguri a te“, tönt es mit Singen und Klatschen von einer der ausgelassenen Gruppen. 


Eine Szene wie im Film …

 

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COSE DELLA VITA. Pralles Leben, dramatische Szenen, unermessliches Leid, Errettung, Dankbarkeit: Der Faden setzt sich in der Wallfahrtskirche von Santa Maria di Barbana fort. Bis hinauf in die Arkadenbögen sind die Wände der Basilika mit Votivbildern behängt. PGR – per grazia ricevuta – lautet die Formel, unter der du Einblick nimmst in die spektakulärsten Seiten aus dem Buch des Lebens. Man sagte Dank für die Errettung von Krankheiten, Unfällen, Gefahren.

 

Hier findest du eineinhalb Jahrhunderte auf einen Blick: zuerst fassen gemalte Votivbilder, dann Fotografien und Zeitungsausschnitte das Geschehen in zeitgemäße Form. Quante Storie … Dem Feuer, den Fluten entronnen. Ein Kriegsschiff der k.u.k. Marine. Ein Flugzeugabsturz über Sardinien, 4.4.1944. Aber auch jene, die Luftangriffe überlebten … Nach den Kriegen ändern sich die Geschichten. Autos, an Bäumen zerschellt. Die Zeiten überlagern sich: Neben der Votivgabe eines Wieners, 1918, hängt die Parte eines Hoteliers aus Bad Hofgastein, gestorben am 10. August 2005 …

 

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VIA SACRA. Die Sonne steht bereits tief im Westen, leuchtet in den Zypressenkorridor, der zur Basilika von Aquileia führt. Hinter der frühchristlichen Kirche mit ihrem übermütigen Mosaikengewimmel beginnt die Via Sacra – eine beschauliche Passeggiata entlang des Porto Fluviale. Dort, wo sich vor 2000 Jahren der antike Hafen erstreckte, fließt jetzt gemächlich das Wasser im krautigen Kanal, gerahmt vom Staccato der Zypressen. Dazwischen Gestrüpp aus Schachtelhalm, Buchs- und Lorbeerhecken. Der Blick in die Zweige des Maulbeerbaumes enttäuscht – es ist nicht die Zeit. Du pflückt ein Lorbeerblatt und du atmest eine ferne, nur mehr geahnte Vergangenheit. 

In den ehemaligen Hafenbecken tarnen sich Frösche im Dickicht der Wasserlinsen. Vereinzelt antike Steine, Trümmer, Kapitelle. Du betrachtest sie, erschrickst fast, denn immer wieder erkennst du im Stein Gesichter, Köpfe, Körper und Gewandteile. Im Gegensatz zu den Ornamenten, die aus dem Stein herauswachsen, scheinen diese im Stein eingesperrt zu sein, sich nur mühsam, unter Anstrengungen aus ihm herauszuarbeiten, zu lösen … 

Kennst du das richtige Tempo für die Passeggiata entlang des Flusshafens? Wirf beim Eingang ein Blatt in den Fluss, lass es treiben – und auch dich, solange, bis ihr beide bei der Basilika angelangt seid. Wie lange das ist? Du wirst es nie erfahren, wenn du die Zeit zu messen versuchst …

 

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DER ALTE MANN UND DIE LAGUNE. Niedrige Wände, hoch aufragend das Dach aus Schilf. Innen ein einziger Raum, im Halbdunkel zeichnen sich Hausrat, Bilder, Kurioses an den Wänden ab. „In diesem Cason bin ich geboren“, sagt der alte Fischer stolz, bevor er mich zu seinem Boot weiterführt, das am Anlegeplatz hinter dem Haus vertaut ist.

Samstagmorgen in der Lagune von Caorle. Schon Ernest Hemingway liebte dieses Gebiet zwischen Land und Meer mit seinen weiten, träg ausgedehnten Wasserflächen, den unbewegten Salzsümpfen und raschelnden Schilfkämmen. Gemeinsam fahren wir über die in der Sonne glänzende Lagune. Fische springen nach Insekten. 

Wir biegen ab in einen der ghebi, der engen Seitenkanäle: Schilf streift unsere Haut, bis wir zu einer winzigen Insel mitten im Rohrdickicht vordringen. Darauf ein Cason – praktisch unsichtbar von außen. In den Schilfhütten daneben werden die Fischernetze aufbewahrt, erklärt der Alte. Wir kehren zurück zu den Fischerhütten, wo er heute noch lebt. Ein Lagunenboot kommt uns entgegen, darauf Gäste, bereit, die Geheimnisse der Lagune zu erkunden …

 

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ZWISCHEN LAND UND MEER. Nur ein paar Schritte reichen, um vom Zentrum Cavallinos zum Canale Casson zu gelangen, wo sich die Sonne im glitzernden Wasser spiegelt. Direkt hinter dem Ort erstreckt sich das weite Lagunenbecken. Seichtes Wasser, Schilfrohr, schmale Ackerlandstreifen, Fischteiche. Dazwischen blitzt das Wasser der Conca Piccola auf, ein Vogelparadies. 

Ich lasse die letzten Häuser hinter mir, folge dem Kanal. Ein weißer Reiher kreuzt im Flug die Spitze des fernen Campanile. Weich streicht der Lagunenwind über die Haut. Brackwasser auf den Feldern, Muscheln auf dem Maisacker. Ich trete hinein ins Schilf – die Welt weicht an die Ränder zurück. Auf der Höhe des Friedhofs wechsle ich, durchquere die Halbinsel in Richtung Strand. Langsam, kaum zu erkennen, mischt sich Meeresrauschen ins Flüstern der Pappeln. Immer deutlicher höre ich die Brandung, spüre den ersten salzigen Tropfen – und dann, hinter einer Düne, das Meer …

 

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ABEND AM STRAND. Die Sonne senkt sich gegen Westen, die Schatten werden länger. Ich ziehe nach langer Wanderschaft Schuhe und Socken aus, verstaue sie im Rucksack. Genieße es, barfuß über den Strand zu wandern. Ein Babbo liegt auf dem Bauch, seine beiden Kinder fotografierend. Einer der letzten, die den Strand noch zum Baden nutzen. Andere spazieren den Strand entlang, lassen den Tag ausklingen, bücken sich nach Muscheln. 

Wie verspielt die Menschen sind! Ein Pärchen hat Stäbchen in Reih und Glied in den Sand gesteckt. Abends siehst du an den Spuren im Sand, wie viele Füße hier täglich wanderten. Wie viele Tausende von Muscheln hast du in diesen Tagen gesehen! Du denkst zurück an die Tage deiner Kindheit, wo jede einzelne ein Anlass zur Freude war … Gefühle der Rückkehr in die Kindheit: Ist es nicht auch das, was wir Glück nennen? 

Com’è profondo il mare – wie tief ist doch das Meer …

 

© Günter Exel

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Paul Daniel (Dienstag, 19 Oktober 2010 23:42)

    Hallo Günther,

    welch ein Zufall, dass ich diese Texte entdeckt habe - ich kannte diese Deine Essays noch nicht: Gratuliere, was für grandiose Texte!!!

    Mit leichter Hand und doch so präzise: Ich rieche den tintenfarbenen Wein, rieche Knoblauch und Zitrone zwischen gegrillten Fischen, Salbei und die derbe Holzkohle auch, und das feuchte Holz der schmalen Terrassen vor den Strand-Kabinen ...

    Pack das in ein Buch, bitte! Und wenn es nur eines für Deine Freunde ist ...

    ein begeisterter
    Paul

  • #2

    Günter Exel (Mittwoch, 20 Oktober 2010 08:12)

    Hallo Paul, vielen Dank für Deine Worte!

    Es gibt noch viele, viele Texte mehr von meinen verschiedenen Reisen – leider habe ich zuwenig Zeit, sie alle fürs Internet (geschweige denn für ein Buch) aufzubereiten. Ich weiß, es ist schade - muss mir das wohl für stillere Tage aufheben … 

    Bücher? But that's so … 1999! ;-)

    Günter