Spoleto (Umbrien)

Steinerner Zwingspruch


 

… die Päpst wußten wohl um das Ritual der Schritte. 
Gewalttätig und subtil zugleich: der steinerne Zwing-
spruch der Domtreppen von Spoleto …

 

FINSTERE, VERSCHLOSSENE GESICHTER, Schweigsamkeit und Mißtrauen verfolgen den Reisenden. Spoleto ist verschlossen, hegt seine Schätze im Verborgenen, hält sie ängstlich vor allem Fremden fern, bringt sie hinter Mauern, in sorgsam gepflegten Gärten, zum Blühen. Und fremd ist – trügt der erste Eindruck? – auch der Nachbar, die Kommune, der Gast. Mitten in der Betriebsamkeit des Vormittags hemmt die argwöhnische Stadt die Bewegungen, errichtet Barrieren für Blick und Begehren, erstarrt im Mißtrauen.


Hat Spoleto jemals gelebt? Gelebt!? Folge dem Lauf ihrer Straßen, dem verborgenen Machtspiel auf ihren Plätzen – du wirst es ergründen. Allzu viel, das dem menschlichen, natürlichen Maß widerspricht. Kaum eine gerade Verbindung, die dich vom einen Ende des centro storico zum andern leitet. Umwege allenthalben, eigenwillige Ecken und Kanten. Jedem sein eigen Himmelreich in der Stadt der Feudalpäpste vergangener Jahrhunderte.

 

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KEIN MENSCHLICHES MASS WIRKT MEHR beim Beschreiten der größten Platzanlage der Stadt, die – bezeichnend – von der päpstlichen Rocca überragt wird. Schon der Zugang zum Domplatz ist inszeniertes Machtspiel. Ritual der Ehrfurcht, versteinerte Repräsentation: Drei Schritte mißt der Stufenabstand der gewaltigen Freitreppe, die zum großen, leeren, selbst am Abend leblosen Platz führt. Drei Schritte, die menschlichem Maß Hohn sprechen, die zum Trittwechsel zwingen, zur Aufmerksamkeit auf Schritt, Stufe, Stein. Die Päpste wußten wohl um das Ritual der Schritte. Sie wußten, wie Wege leiten, geleiten, verleiten, verführen. Inszenierung eines Glaubens, der sich, in den natürlichen Gang der Dinge eingreifend, Respekt, Einfluß und Gehorsam verschafft.

 

Parole sono pietre, benennt Carlo Levi eine Sammlung seiner Reiseerzählungen. Pietre sono parole, bin ich versucht zu sagen: Steine sind Worte, Weisungen, Programme. So deutlich, so subtil zugleich sind diese faßbar im steinernen Zwingspruch der Domtreppen von Spoleto. Pietre sono parole.

 

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SPOLETO BEUNRUHIGT. SPOLETO IST schroff, spröde, unzugänglich. Spoleto beherbergt Geheimnisse. Spoleto, das sind scharfe Linien, die sich über sanfte Hügel ziehen. Blendende Flächen im gleißenden Sonnenlicht. Versperrte Türen, hinter denen verborgene Blumen blühen. Spoleto, das ist, bei aller Nähe, bei den Hausfassaden, die sich aneinander reiben, bei den kühlenden Bergwinden, die die brütende Hitze lindern, eine Architektur der Distanz, des Unantastbaren.

 

Eingebettet in sanfte Hügel, in Samtgewebe aus Steineichen, Zypressen, Ölbäumen und Weingärten, und doch schroff in der Art, wie sich die einstige Herzogsstadt dieser Hügel bemächtigt hat. Beherrschend die Rocca, die päpstliche Zwingburg, die nach dem Sturm von 1860 – eine Selbstverständlichkeit – zum Gefängnis umgewandelt wurde. Fern allen menschlichen Maßes der Domplatz mit dem nie vollendeten Palazzo della Signoria. Außerordentlich der gewaltige Viadukt, der Ponte delle Torri, der sich, eine riesige, gerillte Klinge, in die Flanken des Monteluco einschneidet. Spoleto, oder: Die Gewalttätigkeit der Formen.

 

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BEUNRUHIGEND UND FASZINIEREND – so wie die Stadt sind auch die Begegnungen. Sie reißen, mit einem einzigen Augenblick, Löcher ins Selbstverständnis, in die heile Welt. Die Frau ohne Stimme – sie hält einen elektronischen Verstärker an ihren Kehlkopf, bringt damit schnarrende, krächzende, aber verständliche Worte hervor. Das Paar mit dem Rollstuhl, das das Gefährt wird gerade die letzte Stufe der Domtreppen hinaufgehievt – übersteigert noch sind meine Worte vom Fehlen eines menschlichen Maßes. Das zerschmetterte Auto direkt unter dem Ponte delle Torri, von dem kein Mensch weiß, wie der Wagen, fern aller Straßen, in die schwindelerregende Tiefenwildnis gelangte. Das Schauern dreier Ragazzi, die vom Ponte tief hinab in den grünen Limbus blicken: “Mamma mia!” – “Maccheroni!” – “Bestiale!”

 

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SPOLETO LÄSST DEM KEINE RUHE, der versucht, sich ein Bild zu machen von diesem Ort der Macht und Gewalt. Blut floß seit Römerzeiten, hier, wo sich die weite Ebene der Valle Umbra verengt, hier, wo Römer, Langobarden, Päpste die strategische Bedeutung des Sperriegels an der Via Flaminia erkannten.

 

Ist es ein Zufall, daß die bestimmendsten Bauwerke Spoletos wie am Reißbrett der Strategen, der Machthaber, der Etwas-zu-verteidigen-Habenden gezeichnet scheinen? Manche Fotografien von Spoleto nehmen sich aus wie kolorierte Kriegskarten, wie geometrisch versinnbildlichte Streitlust, wie Kriegserklärungen der Stadtherren an die Stadt, der Plätze an die Passanten, der Architektur an die Wildnis. Geheime Gewalttätigkeit, die wir von Rom gewohnt sind, von Spoleto aber viel subtiler aufgedrängt bekommen. Schwer atmend lasten die Adelspaläste mit ihren grob rustizierten Torbögen auf den engen Gassen. Darauf prangen schwere Steinwappen, überkommene Formen der päpstlichen Repräsentation im feudalen Kunstgebilde des Kirchenstaates. Ich höre unter ihnen die Hausfassaden ächzen …

 

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MISSTRAUE DEN FASSADEN! Das verkündet, kalter Hochmut, der Fonte dell’Orologio. Machwerk päpstlicher Macht, maßlos im Prunk der Wappenschilder und Inschriften. Strenge Symmetrie und sinnloses Dekor. Die Päpste brachten Spoleto zum Wuchern, an seinen schwächsten Stellen setzte sich der Krebs fest, bemächtigten sich Wappen, Voluten und Kolossalordnung der bestehenden Gebäude, verdeckten sie ganz. Spoleto wehrte sich nicht, nicht unterlief es die Macht, wie Montalcino es tat – es zog sich nur zurück in sich selbst, in Hinterhöfe und blühende Gärten.

 

Kampflos kapitulierte die Stadt dort, wo es ihr aufgetragen wurde, ohne Rückgrat zog sie sich zurück. Zu spüren ist es, das Mißtrauen, auch dort, wo man sie unbehelligt ließ: Kaum höher die Mauern, kaum stummer die Wände als hier, in den repräsentativen Teilen der Stadt. Spoleto ballte die Fäuste, aber scheute die Konfrontation. Stolz ist die Piazza del Mercato nicht, nur widerspenstig. Sie reichen sich nicht die Hände, diese Häuser, sie stehen nur stumm, Schulter an Schulter. Keines führt das Wort – das überlassen sie dem Orologio, der davon reichlich Gebrauch macht. Auch wenn ihm niemand der Eingeweihten mehr zuhört, schon lange nicht mehr: Er prahlt und protzt, sonst schweigt der Platz …

 

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PLÄTZE SCHENKEN SPRACHE. PLÄTZE provozieren sie, Plätze geben ihr Raum. Frei entfalten konnte sich die Sprache hier, auf der Piazza del Mercato, nie. Nach den Gesetzen des Marktes stammelt sie untertags, und abends hindern sie die kleinen, geschlossenen Gruppen am großen Austausch, am freien Fließen der Worte. Spät, sehr spät erst füllen sich die freien Plätze der Bar Primavera, in kleinen Runden nur werden Worte gewechselt – und oft, sehr oft unterbricht ein Handy die Gespräche der Runden. “Pronto … sono in piazza …”, werden die Fäden nach außen geknüpft. Die Piazza genügt sich nicht selbst – das nächste Handy schlägt an –, sondern ist immer an unsichtbare Fäden von außen gebunden. Kein Mittelpunkt, kein Kreis, der sich rundherum entfaltet.

 

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STADT OHNE MITTE, RAUM OHNE ANGELPUNKT. Spoleto leidet an einer klaffende Wunde im Stadtgewebe, seit Jahrhunderten schon. Die päpstliche Rocca, Zentrum der Zwingburg, unnahbar und drohend, den eigenen Bürgern das fernste. Zuerst Sitz der verhaßten Herren, später Festungsgefängnis, unseliger Turmhelm, nun schon seit Jahren wohl frei, doch nicht wirklich: “Ingresso proibido” heißt es noch immer, da oben gebaut wird, restauriert und erschlossen. Der Effekt, bislang, ist derselbe. Totes Zentrum, Bannkreis des Verbots – noch immer atmet die Stadt nicht frei …

 

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UND DOCH PRÄGT EINE WUNDERSAME BALANCE zwischen Gewalttätigkeit und Segensreichem Spoleto, läßt du dich auf sie ein. War nicht das strategische Bollwerk – der Ponte delle Torri – auch Wasserleitung, von der die Spoletini kühles, lebensspendendes Wasser bezogen? Findet sich nicht gerade in den geistlichen Zwingburgen – den Kirchen und Klöstern – das Schönste, was Spoleto an romanischer Kunst, an Renaissance und Barock zu bieten hat? Lebt nicht gerade in der Bastion der päpstlichen Machtapparates eine Gegenbewegung in der Geisteshaltung auf, mit dem Festival dei due mondi, mit unzähligen kulturellen Anregungen?

 

Man muß im Tiefen gewesen sein. Darum handelt sich’s. Im Tiefen gewesen – das ist Spoleto zweifellos. Keine legerezza, keine Leichtigkeit. Die Stadt, die erst im vorigen Jahrhundert in die Mündigkeit entlassen wurde, beginnt, erwachsen zu werden. Erwachsen in der Art der Spätberufenen: Nachdenklich, leise, aber mit Enthusiasmus, Neugier, Freude am Experiment. Geprägt von den Narben einer gewalttätigen Geometrie, ist es im Zeitalter des Individualismus für Spoleto zu spät, neue Formen der Gemeinsamkeit zu finden, zu errichten. Daran leidet Spoleto, das ist seine Wunde. Sich mit diesem Defizit verbissen auseinanderzusetzen, das ist der Ehrgeiz der Cittadini. Doch nicht gemeinsam, sondern jeder einzeln, mit ständig wachem Mißtrauen gegenüber jener Stadt, der sie ständig ihre sichtbaren und unsichtbaren Fesseln vorhalten. Auch von außerhalb kommen sie, beleben Ausstellungen, Galereien, Ateliers. Sie treiben voran, sie stellen sich in Frage, sie wollen weiterkommen. Diese Stadt hält zur Ernsthaftigkeit an –

 

Vom großen Viadukt, von seinem Bollwerk aus überblickt Spoleto die gesamte Valle Umbra, Foligno, Assisi, den Monte Subasio. Leicht, auch in den Beschwernissen, scheint dort draußen das Leben. Hier, wo sich die Täler verengen, wo freier Raum Gefahr und wo nur Mauern und Hügel Sicherheit verheißen, hier, wo der Kirchenstaat einen Brückenkopf des Feudalismus schuf, hier schuf das Machtwort eine andere Architektur und die Architektur andere Menschen als anderswo.

 

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DOCH STÄDTE LEBEN, bewegen sich, drängen nach Ausgleich – intakte Städte. Kann eine Stadt von solch einem klaffenden Riß ins Jenseits unberührt bleiben? Oder besser – denn Zeit zählt im Organismus einer Stadt nur bedingt: Hat nicht eine Stadt, von so besessener Sehnsucht nach Unberührbarkeit und moralischer Autorität zum Bau dieser Himmelsschleuse getrieben, ganz tief unten ein rasendes, wühlendes, rastloses Innenleben?

 

© Günter Exel
Foto: photocase.com