In Portugals urtümlichster Provinz tanzen die Stunden auf blinden Uhren. Korkeichen zählen das Verwittern der Jahre. In den
Städten flüstern Jahrhunderte alter Stimmen. Und auf heiligen Orten berührt man die Hand eines Steinzeitmenschen. Eine poetische Zeitreise mit Günter Exel.
Ein ausgedörrter Leichnam baumelt von der Decke. Eingetrocknete Muskelreste, an denen die Haut in Fetzen zerfasert. Zwischen den Arkaden schwebt Mozarts Requiem. In die getragenen Töne mischt sich das Murmeln der Besucher. Gelächter. Betretenheit.
Schädel und Knochen von 5000 Menschen schmücken die Capela dos Ossos in Evora. Als die Franziskaner im 16. Jahrhundert der „Knochenkapelle" ihren makabren Wandschmuck verpassten, war der Schmerz
des Todes noch gegenwärtig. Heute beleuchtet das Stakkato der Blitzlichter nur mehr den Staub des Vergessens. Verkommt eine heimliche Berührung der blank abgegriffenen Schädelkalotte am Pfeiler
zum wohlig-gruseligen Nervenkitzel. Niemand weint mehr um diese Menschen. Im Pittoresken geht das Einzelschicksal verloren.
Ich versenke mich in den hohlen Blick eines Augenpaares an der Wand. Höre in mich hinein. Die Orgelmusik aus den Lautsprechern verweht. Das Johlen der Besucher verstummt. Und dann, in der aus mir
aufsteigenden Stille, höre ich Stimmen, die leise ihre Namen flüstern ... Luis ... Gracinda ... João ... Miguel ... Mariana ...
Unversehens füllen sich die leeren Augenhöhlen, und ich weiß mich von Hunderten funkelnder Augen betrachtet -
Wendekreis des Krebses, hoch steht die Sonne im Firmament. Die weißen Häuser des portugiesischen Weltkulturerbes Evora werfen kaum Schatten. Schläfrig verschlossen träumen die ocker umrahmten Fenster und Türen vor sich hin. Träge unterhalten sich Schwalben und Spatzen. Eine Katze überquert das in der Mittagshitze knisternde Pflaster. Die blühenden Bäume am Largo da Misericordia verströmen einen betörenden, süßlichen Duft, während eine leichte Brise einen beständigen Regen an fliederfarbenen Blüten zu Boden schweben lässt. Der Wind fängt sich in einem Leintuch, das als Segel über der Gasse treibt.
Die Stimmen der Capela dos Ossos begleiten mich durch die Straßen. Ich meide die zentrale Praça de Giraldo. Verirre mich auf meiner Suche nach den Schemen der Vergangenheit in den kleinen, mit
Granit gepflasterten Gassen und Travessas. Hier müssen Luis, Gracinda, João gelebt haben. In den Fenstern, Fassaden, Formen und Fugen suche ich nach den Spuren, die sie, über die Zeiten hinweg,
hinterlassen haben. Versuche, der Geschichte ein Gesicht zu geben. Den Gesichtern einen Namen. Den Namen eine Geschichte.
Vor der Fundação Eugenio de Almeida steht eine gewaltige Platane. Tief in ihrem Schatten entdecke ich eine Sonnenuhr, die keine Stunden mehr zählt ... Einige Tage später wird mich Senhor Eugenio
Tavares d'Almeida im Museo do Relógio in Serpa zu einer Vitrine führen, in der Hunderte blinde, zeigerlose Ziffernblätter antiker Taschenuhren liegen. Ich werde die auf schwarzen Samt gebetteten
weißen Kreise anstarren. Werde plötzlich denselben Sog spüren, den schon die leeren Augenhöhlen der Capela dos Ossos ausübten. Die Ziffern werden vor meinen Augen tanzen. Die Minuten, Jahre,
Jahrhunderte werden durcheinander wirbeln wie die Stundenschläge der 1600 Uhren in Eugenios Museum. „Ich habe sie alle auf eine andere Zeit eingestellt", wird er mir sagen. „So schlagen sie nicht
alle zugleich", wird er sagen. „So kann man ihren Klang viel besser hören ..."
Den Klang der Jahre spüre ich in der Landschaft des Alentejo, die mich in diesen Tagen in ihrem Rhythmus aus Korkeichen und gelb abgeernteten Weizenfeldern umfängt. Die Korkeichen tragen den Keim
der Langsamkeit in sich. Sieben Jahre lang werden sie nach dem Schälen von den Menschen nicht angerührt. Ihre Stämme verwandeln sich - erst leuchtend rot, dann schwarz verwittert. Sie bedürfen
keiner Pflege, sie wachsen und werden in der Zeit. Und sind zugleich Maßstab für die Zeit.
Unten am Stammansatz lese ich die Jahresringe der Ernten ab. Darüber ist der Stamm rau, von Furchen durchzogen, mit kleinen Vertiefungen. Ziffernblättern gleich, tragen manche Korkeichen
Jahreszahlen. Weiß leuchtet eine „1" auf der schwarzen Rinde - 2001, vor sieben Jahren, wurde dieser Baum geschält.
Generationen von Landarbeitern, Taglöhnern, haben diese Bäume schon erlebt. Antonio, José, Sigismundo haben hier um einen Bettellohn für die Feudalherren den Kork geerntet. Sie schufteten,
hungerten, starben früh. Der Boden trank ihren Schweiß, ihr Blut. Deren Knochen lösten sich längst im Staub des trockenen Landes auf.
Das Leben des Feudaladels ist in den Burgen und Herrenhäusern des Landes zu erahnen, die heute als Pousadas stilvolle Unterkunft gewähren. Der Geist der Vergangenheit weht aber auch durch die
aufgelösten Klöstern, die heute als Luxushotels dienen - die Pousada dos Loios in Evora oder, vor den Toren der Stadt, der Convento do Espinheiro, in dem ich diese Tage verbringe.
Immer wieder zieht es mich in die Kirche des „Konvents zum Dornbusch". Hier scheint die Zeit die Stimmen und Spuren der Vergangenheit wie bei einem Palimpsest übereinander abgelagert zu haben.
Ich kratze am Augenscheinlichen - und sehe plötzlich Könige über den Marmor schreiten. Höre Geflüster von den Beichtstühlen, das in den Ritzen des Sprachgitters hängen bleibt, heimlich, gepresst,
von Ängsten und ohnmächtigem Zorn beladen.
Ich öffne verborgene, hölzerne Türen im Kirchenmobiliar, gelange über verwinkelte Treppen hinter die Kulissen, in Nebenkapellen, versteckte Räume. Der mit Gold überladene Altar - von hinten
gesehen ein roh gezimmerter, hölzerner Schrein, jedes Prunks beraubt. Und doch verwandelt das transzendente Morgenlicht den Raum in ein Verkündigungsgemälde ...
In den Innenhöfen flattert der Heilige Geist in fröhlichem Aufruhr. Schwalben ziehen, im Kreuzgang segelnd, ihre Kreise auf kleinstem Raum. Auf den Kapitellen sitzen Spatzen, geschwätzig. Das
grelle Sonnenlicht blendet auf den weißen Mauern.
Außen flüstert eine Brise in den Blättern der Platanen. Eiserne Laternen baumeln im Windzug. Durch den Ölhain führt der Weg zu einer Grabkapelle. In den Bögen des gotischen Kreuzrippengewölbes
haben Schwalben ihre Nester gebaut. Rundum noch Zeugnisse bäuerlicher Vergangenheit: Geborstene Fässer, von metallenen Bändern am Auseinanderfallen gehindert. Gewaltige zerbrochene Krüge. Ein
Mühlstein, in zwei Teile gespalten ... Der Alentejo - das ist Langmut im Betrachten und Vergehen, das in jedem kleinen Erdausschnitt ständig präsent ist.
Am längsten Tag des Jahres breche ich auf in Richtung Westen - in die Vorzeit, aus der der Menhir von Almendres stammt. Seit der Steinzeit zeigt sein Schatten Tagesstunden wie Jahreszeiten an.
Jetzt, im warmen Licht des späten Nachmittags, steht er selbst im Schatten eines Ölbaums, der Jahrtausende jünger ist als er. Ameisen krabbeln aus einem Erdloch unweit des Obelisken.
Geschäftigkeit. Vergänglichkeit. Gedrängte Zeit. Hoch am Himmel leuchtet blass der Halbmond - wie der Menhir auch er Teil des großen Uhrwerks. Unruhe in Ewigkeit.
Kurz vor Sonnenuntergang erreiche ich den zwischen Kork- und Steineichen gelegenen Cromeleque dos Almendres. In dieser Bergeinsamkeit mit Blick vom Atlantischen Ozean bis hinüber nach Spanien
treffe ich Dr. Vitor Pereira Neves. Dieser Steinkreis, sagt er, ist ein heiliger Ort. Er zeigt mir, wo der steinzeitliche Umgangskorridor verlief. Diese Menhire hier ziehen die Linie der
Tagundnachtgleiche nach. In der Mitte stand einst ein gigantischer Obelisk, Zeichen und Zeitmesser zugleich. Ich stehe auf einem Stein und sehe, wie sich mein Schatten in den Zeiger einer
Sonnenuhr verwandelt ...
Vitor nimmt meine Hände, führt sie über die rauen Steine, lässt mich ihre Vertiefungen fühlen. Kreise sind es, sagt er, und Monde, ein Abbild des Cromeleque. Ein einziger Stein ist nicht
verwittert, mit den Fingerspitzen ertaste ich eine Schlange, die größere Hand eines Mannes, die kleinere einer Frau. Ich lege die Finger in Einkerbungen, die vor sieben Jahrtausenden aus dem
Stein gemeißelt wurden - und erstarre: Meine linke Hand passt genau, ganz exakt, in die Konturen der steinzeitlichen Vertiefungen. Als hätte ich hier in Vorzeiten schon einmal Maß genommen
...
Zum Abschied schreibt mir Vitor eine Widmung in sein Buch über den Cromeleque. Die Sonne ist untergegangen, ich sitze auf einem noch tagwarmen Stein und lese: Às pessoas que, como eu, gostam da
Natureza e de viajar no tempo - denen gewidmet, die sich, so wie ich, an der Natur erfreuen und es lieben, in der Zeit zu reisen ...
ZUM NACHLESEN
Die Reportage „Das Flüstern der Zeit“ erschien als Coverstory in der Juni/Juli-Ausgabe 2008 des österreichischen Reisemagazins „Reisen“ (www.wirwarendort.at).
Das PDF der Geschichte mit näheren Informationen zu Anreise, Unterkunft und Informationsstellen finden Sie hier zum Download (588 kB)!